Die funktionelle Anatomie des Pferdes

 

 

„Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde!“

(Friedrich von Bodenstedt)

 

 

Damit wir Reiter und auch die Pferde dieses wunderbare Glück erleben dürfen, sollten wir uns nach allen Kräften bemühen, die Funktion des Bewegungssystems Pferd im richtigen Sinne zu verstehen, indem wir uns den Aufbau und die Biomechanik desselben genau betrachten. Wie ich oft miterleben durfte, steigt mit immer klarerem Verständnis für seine Anatomie zusehends die Zufriedenheit im Umgang mit unserem Sport- und Freizeitpartner Pferd, und zwar nicht nur die unsere. Ziel ist es, ein gesundes, losgelassenes, leistungsfähiges und -bereites „System" Pferd anzustreben und zu erhalten.

 

Wenn wir niemals aus den Augen verlieren, dass ein Pferd nur das in der Lage ist zu leisten, was sowohl sein Exterieur als auch sein Interieur in der Lage ist zu leisten, steht unserem Glück nichts im Wege.

 

Grundsätzlich gilt, dass ein krankhafter oder gestörter Bewegungsapparat und somit nicht freier Bewegungsablauf mangels Losgelassenheit eine nachteilige Veränderung am Huf bewirkt. Im Gegenzug führt ein nicht naturgemäß funktionsfähiger Hufmechanismus immer auch zu einer Beeinträchtigung des gesamten Bewegungssystems.

 

Nur bei ganzheitlicher Betrachtung werden wir uns langfristig an einem gesunden und leistungsbereiten Pferd erfreuen.

 

 

 

 Die Oberlinie

 

 

„Reiten ist eine ernste Angelegenheit, da es auf dem Rücken von Lebewesen geschieht“

 (Horst Stern)

 

Die gesamte Anatomie des Pferdes ist für schnelle Fortbewegung vorwärts geradeaus konzipiert und auf stundenlange Nahrungsaufnahme mit bis zum Boden gesenktem Kopf ausgerichtet. Der Körperbau des Pferdes gleicht einer Brückenkonstruktion, deren Pfeiler die beiden Gliedmaßenpaare bilden, die über den Pferderücken miteinander verbunden sind.

 

Wie kann es möglich sein, dass der im Optimalfall frei schwingende Rücken des Pferdes in der Lage ist, seinen Rumpf plus Reitergewicht zu tragen, und dieses sogar in Bewegung?

 

Nur ein speziell verspannter Sehnen- und Bänderapparat ermöglicht es.

 

Von den Ohren bis zum Schweifansatz erstreckt sich eine lange zweigeteilte Bandstruktur, welche im ersten Abschnitt bis zum Widerrist als Nackenband, im zweiten Abschnitt im Anschluß an den Widerrist als Rückenband bezeichnet wird. Beide Bandapparate sind angeheftet an die Dornfortsätze des Widerrists, was von entscheidender Funktion für die Tragfähigkeit des Rückens ist. Streckt das Pferd seinen Hals lang, zieht das Nackenband die Wirbelfortsätze des Widerrists nach vorne. Gleichzeitig wird das Rückenband durch diesen Mechanismus gespannt, was den Rücken tragfähig macht. Der lange Rückenmuskel des Pferdes ist ein reiner Bewegungsmuskel, der vollkommen ohne Anteil von Sehnen oder Bändern beschaffen ist. Er verläuft horizontal von der hinteren unteren Halswirbelsäule bis zur Lendenwirbelsäule mit dem Kreuzbein und Beckenring. Er kann nur dann seine Arbeit ungestört verrichten, wenn das Rückenband ihn freihält von jeglicher Halte- und Tragearbeit. Nur in diesem Falle können wir überhaupt in den Genuss kommen, ein sich unter dem Reiter mit schwingendem Rücken bewegendes Pferd zu bestaunen.

 

Das junge Pferd macht diesen Bewegungsablauf möglich, indem es seinen Hals und damit die S-förmige Halswirbelsäule und die an ihr befestigten Sehnenstränge streckt. Die zunehmend ausgebildete Oberhalsmuskulatur unterstützt das Pferd dabei, diese Verspannung des langen Rückenbandes zu halten, ohne seinen Kopf zu sehr senken oder seinen Hals zu sehr strecken zu müssen.

Diese Mechanik hat nichts mit Versammlung zu tun!

 

Die beiden Muskelstränge, Oberhalsmuskel und langer Rückenmuskel, spiegeln in ihrer Konditionierung den Ausbildungsstand des Pferdes untrüglich wider. Nur wenn sie ihrer Aufgabe entsprechend ausgebildet sind, können alle anderen Muskeln sich vorteilhaft entwickeln und ihre vorgesehenen Aufgaben übernehmen.  Muskulatur bildet sich allerdings nicht von heute auf morgen und auch nur dann, wenn sie unverkrampft ans Werk gehen darf.

 

Grundsätzlich besteht die Pflicht, zu jedem Zeitpunkt kompromisslos darauf zu achten, dass die Ausbildung eines Pferdes sich an seinen Anlagen und seiner Kondition orientiert. Entscheidend ist die Entwicklung zu einem leistungsfähigen und gesunden! Sportler. Höchstmögliche Leistungsfähigkeit lässt sich nicht nach Schema F sondern nur unter Berücksichtigung aller individuellen Eigenschaften erreichen.

 

Was erwarte ich von meinem Pferd? In welchem Maße ist es zur Erreichung dieses Ziels anatomisch ausreichend gerüstet? Und allem voran: Habe ich genügend Geduld und nehme ich mir ausreichend Zeit, um dieses Ziel zu erreichen?

 

Zeit ist der maßgebliche Faktor, den es zu berücksichtigen gilt. Muskeln benötigen Zeit, sich aufzubauen und ebenso stabilisiert sich das Nervenkostüm eines Pferdes nicht von jetzt auf gleich. Beide, sowohl der Muskelapparat als auch das Nervensystem, können nur in Entspannung losgelassen arbeiten und sich entwickeln. Losgelassenheit ist die Voraussetzung für ein dauerhaft funktionstüchtiges Bewegungssystem Pferd und sollte vielleicht gleichauf mit dem „Takt" an erster Stelle der Pferdeausbildungsskala stehen. Denn nur in Losgelassenheit wird das Pferd seinen Reiter mit taktreiner und schwungvoller Bewegung tragen.